Manchmal reichen Worte

EN  JA


EEFKE KLEIMANN
Katalogtext in: “Why don’t cats wear shoes?”, 2020

 

Manchmal reichen Worte


Es schimmert vor Buchstaben. Sie liegen lückenlosen nebeneinander. Feine Linien umzäunen jeden einzelnen und formieren sich zu Quadraten. Ein herkömmliches Kreuzworträtsel? Keinesfalls: Die flachen Buchstabenfelder sind Teil einer Raumarbeit des japanischen Künstler-Duos Nana Hirose und Kazuma Nagatani. Dafür haben die beiden jede Bodenfliese des Göttinger Künstlerhauses mit einem silbernen Versal in Serifenschrift versehen. Hier und da liegt ein roter Apfel auf einem der Felder. An den Wänden und der Raumdecke tanzen die Reflexionen der Spiegelfolie. Um den Sinn des Buchstabensalats zu begreifen, muss man sich durch den Raum bewegen, aufmerksam und konzentriert Zeichen um Zeichen aneinanderreihen, Zeile für Zeile mit Geist und Körper nachvollziehen. Nach und nach erschließen sich einzelne Worte, gar Sätze und es wird deutlich, dass es sich bei dem verschlüsselten Text um eine Aneinanderreihung von Fragen handelt.
Warum ist der Himmel blau? Warum gibt es Krieg? Was macht der Wind wenn er nicht weht? Aber: Der Himmel ist doch gar nicht blau – möchte man entgegen. Und eine unmittelbare Erklärung für den Sinn des Kriegs? – die ist nicht leicht zu finden. Die Fragen, mit denen Hirose und Nagatani ihre Rezipienten konfrontieren, muten auf den ersten Blick kindlich an, aber in ihnen liegt häufig eine Bedeutung von Gewicht verborgen: z. B. wenn es um die Endlichkeit des Lebens oder die gesellschaftliche Ungleichheit von arm und reich geht.
Tatsächlich stammen die Fragen von Kindern. Die beiden Künstler recherchierten sie im Internet, erstellten einen eigenen Fragenkatalog und ordneten dann eine spezifische Auswahl im Raum an. Dabei setzten sie jeden Buchstaben aus spiegelnder Folie auf je eine der bereits vorhandenen Fliesen und verzichteten auf Leerzeichen. Mit dieser Setzung gelang es den beiden, den Ausstellungsraum und die Rezeption auf besondere Art und Weise umzustrukturieren. Anstelle von sogenannter Flachware an den Wänden oder Objekten im Raum erstreckt sich das Werk über den Boden. Der Blick der Betrachtung ist nach unten gerichtet und wandert unentwegt von Zeichen zu Zeichen. Der Textverlauf erzwingt die Bewegung durch den Raum. Dadurch wird die körperliche Aktivität der Rezipienten zur Konstituente des Werks. Die Tatsache, dass dabei aber kein zusammenhängender Text zur Lektüre steht, sondern Fragen an den Betrachter gerichtet werden, evoziert einen besonderen Dialog. Die Fragen bieten Anregungen, um sich mit ihrem Inhalt auf ganz persönliche Weise zu beschäftigen. Über manches Banal-anmutende oder Unbequeme geht der eine hinweg, der andere verharrt hier besonders lange. Manche Frage beschäftigen ihn länger und er trägt die Gedanken mit nach Hause, in den Alltag, wo sonst doch so wenig Zeit ist, um sich diesen kleinen und großen Themen des Lebens zu widmen. In diesem Sinne entstehen zum einen individuelle Lektüren durch die Auswahl der Fragen und zum anderen subjektive Fortschreibungen bzw. Vervollständigungen durch deren Beantwortung – sei es im Geiste oder im Austausch mit anderen.
Deutlich wird, dass Hirose und Nagatani, die ohnehin eine Textcollage aus Fremdzitaten zusammengestellt haben, die Rolle des Betrachters für die Rezeption ihres Werks besonders in den Vordergrund stellen und gleichzeitig die des Autors marginalisieren. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass es nötig ist, das Werk zu betreten, um es zu erfassen. Ein immer noch irritierender Rezeptionsmodus, auch wenn er mittlerweile schon als eine kunsthistorische Tradition angesehen werden kann. Als nahezu ikonisch gilt in diesem Kontext eine Werkgruppe von Bodenarbeiten des amerikanischen Minimal Art-Künstlers Carl Andre. Als er ab Mitte der 1960er Jahre extrem flache Skulpturen aus begehbaren, rechteckigen Platten verschiedenster Metalle schuf, ging es ihm darum, eine neue Erfahrung des Raumes und der Skulptur zu ermöglichen. Im Gegensatz zu Hirose und Nagatanis Arbeit ging es aber weniger um eine intellektuelle Selbstreflexion, sondern um die Sensibilisierung für den Raum, die Materialien, das Licht und den Einfluss, den der eigene Körper auf das Ensemble hat. Letztere Idee findet sich allerdings überdeutlich in der Arbeit des Künstlerduos wider, wenn als Werkstoff eine reflektierende Spiegelfolie eingesetzt wird.
Seit Andres ersten Bodenarbeiten haben sich Künstler immer wieder mit der Frage nach der Betret- bzw. Berührbarkeit ihrer Kunst beschäftigt. Die Vorstellung, dass Kunst über eine besondere Aura verfüge und dadurch unantastbar sei läuft Andres Installationen zuwider und trotzdem ist es heute außerhalb jeglicher Vorstellung, auf einem Original des Künstlers durch den Ausstellungsraum zu laufen. Mit ihrer Arbeit Sea Sick Passenger (2014) hat Rosa Barba, die Professorin für freie Kunst an der Hochschule für Künste in Bremen ist, wo Hirose und Nagatani studierten, den Konflikt pointiert und gleichzeitig die Ebene des Textes miteinbezogen. Eine monumentale, quadratische Fläche von 450 x 450 cm liegt dabei auf dem Boden. Sie ist perfekt von oben ausgeleuchtet, sodass nur das rechteckige Objekt im ansonsten dunklen Raum hell hervortritt. Es besteht aus dunklem Filz und ist von oben bis unten mit einem ausgestanztem Fließtext besetzt. Die intensive Beleuchtung verleiht ihm eine erhabene Wirkung, die davon abhält, es zu betreten. Um den Text aber Zeile für Zeile lesen zu können, wäre dies von Nöten. So bleibt den Rezipienten nichts anderes übrig, als um das große Textfeld herumzuwandern und zu versuchen, bei der Bewegung weiterhin den Sinn zu entnehmen. Dies entwickelt sich zu einer nahezu unlösbaren Aufgabe und provoziert das Springen in den Zeilen, das Überfliegen der Passagen, die besonders mittig und somit schwer zu lesen sind, oder gar den Abbruch. Der narrative Text zerlegt sich in seine Einzelteile und wird in der Rezeption jedes Einzelnen zum Fragment. Ähnlich wie bei Nagatani und Hirose steht also die individuelle Lektüre, die sich auch aus der Bewegung und Reflexion des Lesenden speist, im Zentrum.
Anders als bei Andre oder Barba aber hat das Künstlerduo noch eine weitere Objektebene in seine Installation einbezogen. Wie so häufig in seinen Arbeiten bindet es Lebensmittel oder Bilder von Lebensmitteln aus unserem Alltag in die Installation mit ein. Die Äpfel, die hier und da auf dem Schriftbild positioniert sind, erschließen eine zusätzliche inhaltliche Ebene. Sie sollen auf den Astronom und Physiker Isaac Newton (1643–1727) verweisen, der einer berühmten Anekdote zufolge durch die Wahrnehmung eines vom Baum fallenden Apfels angeregt worden sei, die Schwerkraft zu erforschen. Wieso fällt der Apfel senkrecht, nicht seitwärts oder aufwärts?

In den eingefahrenen Spuren des Alltags halten Fragen nach der krummen Banane oder dem Ursprung der Wellen des Meeres auf. Alles noch einmal zum ersten Mal erleben, wieder mit den Augen eines Kindes sehen – das sind romantische Wünsche, die in manchen Menschen entstehen, wenn sie ihre eigenen Routinen reflektieren. Hirose und Nagatani bieten uns einen Erfahrungsraum dafür, der ohne große Bilder oder aufwändige Effekte auskommt. Manchmal reichen Worte.

Eefke Kleimann