MARIKO MIKAMI
Katalogtext in: “Resonances of DiStances”, 2021
Kunstverein Leverkusen
Der Verrat der Vorstellung
Die Werke von Nana Hirose und Kazuma Nagatani erscheinen auf den ersten Blick spielerisch. Doch wenn man um sie herumgeht und sich mit ihnen physisch auseinandersetzt, verwandelt sich ihre Verspieltheit in einen kritischen Blick auf den Alltag, der die Divergenzen zwischen Vision und Wahrnehmung hinterfragt und die Grenzen zwischen Kunst und Alltagsgegenständen verwischt, was letztlich zu der einfachen und tiefgründigen Frage führt, wer wir sind.
Seit ihrem Umzug von Osaka nach Berlin im Jahr 2007 zogen Hirose und Nagatani in verschiedene deutsche Städte, darunter Bremen, Ulm und Düsseldorf. Der Umzug in eine andere Kultur, das Eintauchen in eine unbekannte Sprache und die Neupositionierung in der Fremde haben beide für kulturelle Normen und unsichtbare Grenzen im täglichen Leben sensibilisiert. Diese persönliche Erfahrung des Perspektivwechsels führte zu ihrer ersten gemeinsamen fotografischen Arbeit „Landschaft” (2009-2010). Sie bauten eine Lochkamera mit mehreren Löchern, fotografierten alltägliche Szenen aus verschiedenen Blickwinkeln und entwickelten überlagerte Bilder. Dies zeigt, wie erfrischend eine gewöhnliche Landschaft sein kann und wie unsicher das ist, was wir zu sehen glauben.
Der Wechsel des Standpunkts ist ein wesentlicher Bestandteil der Installation „Warum tragen Katzen keine Schuhe?” (2019-), die in der Haupthalle des Kunstvereins Leverkusen gezeigt wird. Unzählige, spiegelnde Buchstaben sind auf die Fliesen des Raums einzeln geklebt und ergeben 37 Fragen. Es ist schwierig, sie auf Anhieb zu lesen, da es keine Punkte, Kommas oder Leerzeichen zwischen den Buchstaben gibt. Da die Buchstaben groß sind und auf dem Boden kleben, müssen Besuchende auf das „Kunstwerk” treten, nach unten schauen und sich rückwärts bewegen, um zu verstehen, was sie bedeuten, z.B., „Warum bin ich ich?” oder „Seit wann gibt es Endlichkeit?”. Im Gegensatz zur „Fragenprojektion“ (1981-2003) von Peter Fischli und David Weiss, wo die Fragen an die Wand projiziert werden und Betrachtende fragen lässt, was für eine exzentrische Person solch lächerliche aber tiefgründige Fragen stellen würde, versetzen die Fragen von Hirose und Nagatani Betrachtende in ihre eigenen Kindheitserinnerungen zurück und lassen sie sich fragen, wer sie sind und wo sie jetzt stehen. Diese eher banalen, aber allgegenwärtigen Fragen stammen von Diskussionswebsites oder sozialen Medien, wo sie häufig von Eltern gepostet werden, die Rat suchen, wie sie auf die Neugier ihrer Kinder reagieren können. Während Betrachtende nachdenken, bemerken sie auch die auf dem Boden verstreuten Äpfel. Ein Apfel, der saftig aber gewöhnlich ist und in vielen Mythologien als paradoxe Frucht dargestellt wurde, stellt Betrachtende vor die Frage: Ist dieser Apfel ein Kunstwerk?
Eine weitere Installation “Still Life” (2013-) weist auf die Unsicherheit unserer erlernten Wahrnehmung hin. Sie besteht aus fast 100 verschiedenen weißen Porzellanobjekten wie Glühbirnen, Bleistiften, Keksen, Coca-Cola-Flaschen, Ikea-Gläsern, Bananen, Äpfeln und so weiter. Porzellan ist ein hartes und zerbrechliches Material, aber Hirose und Nagatani geben ihm den weichen und schlaffen Anschein. Jedes Porzellanstück ist akribisch bearbeitet und nahtlos, die Objekte als Ganzes sind verformt, demoliert und dysfunktional gegenüber ihrem ursprünglichen Zustand. Hirose und Nagatani gießen Alltagsgegenstände aus ihrer Wohnung in Gipsformen ab. Um beim Brennen eine geschmeidige Form zu erhalten, wird eine spezielle Mischung sorgfältig ausgewählt. Die kleinste Veränderung der Brenntemperatur verwandelt das Werk in etwas völlig anderes als das, was es einmal war. Mit ihrer hohen keramischen Handfertigkeit nutzen sie dieses unkontrollierbare Element, um zu hinterfragen, warum wir das Objekt als Apfel erkennen können, obwohl die Form verzerrt ist, die Farbe weder rot noch grün ist und es aus Porzellan besteht. Dadurch werden die symbolischen Attribute (Apfel ist rot, Porzellan ist hart) sorgfältig von der Bedeutung getrennt, wodurch die Diskrepanz zwischen signifiant/Lautbild und signifié/Vorstellung, wie sie René Magritte dargestellt hat, deutlich wird. Der Titel bezieht sich offensichtlich auf ein klassisches Kunstgenre, das historisch für die Malerei unbelebter Materie verwendet wurde, doch das Werk von Hirose und Nagatani stellen die Beliebigkeit des Genres in Frage. Unabhängig von ihren ursprünglichen Merkmalen sind alle Porzellane auf dem Tisch unglasiert und ungefärbt. Sie sind in ihrer Gesamtheit gleichberechtigt ausgestellt, so als gäbe es keine Hierarchie zwischen den Objekten und den Gattungen.
Es ist klar, dass Hirose und Nagatani ihr tägliches Leben thematisieren, aber obwohl sie häufig ihre persönlichen Gegenstände unter anderem ihre Wohnung als Motive verwenden, wirken ihre Arbeiten eher anonym (siehe auch „365 Wohnungen” und „Zuhause als Vogelhaus”). Da die Fragen „Warum tragen Katzen keine Schuhe?” als kollektives Wissen aus dem Internet gesammelt werden und die Objekte „Still Life“ Alltagsgegenstände in jeder Stadt weltweit zu finden sind, spiegeln die Werke unsere konsumierende Massenkultur wider. Sie können der Kritik an der kulturellen Aneignung entgehen und lassen sich nicht auf ein einziges Land oder ein einziges Individuum reduzieren, da die materielle Welt keinem bestimmten Kulturkreis angehört. Infolgedessen sind ihre Werke Porträts von uns allen, den urbanen Weltbürgern. Da die meisten ihrer Werke keine eindeutigen Mittelpunkte haben, müssen Betrachtende als Drehpunkt und Katalysator aktiv entscheiden, wo sie das Werk sehen möchten. Hirose und Nagatani lenken unsere Aufmerksamkeit auf unsichere Grenzen, die einfach eine Erweiterung unseres täglichen Lebens sind, um Selbstverständlichkeiten auf konzeptionelle, ästhetische, spielerische und kritische Weise zu verlernen.