Miniaturen des Alltags

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EEFKE KLEIMANN
Katalogtext in: “ANOTHER PLACE”, 2018
The Japan Foundation, Köln

 

Miniaturen des Alltags

Brezeln, Kartoffeln, Cola-Flaschen und Altpapier – wenig künstlerisch muten diese Dinge an. Sie stehen sinnbildlich für den Alltag und unser Konsumverhalten. Das Künstlerduo Nana Hirose und Kazuma Nagatani begeistert sich für diese vermeintlichen Trivialitäten und transferiert sie in ausdauernden, raffinierten Prozessen zu Kunstminiaturen des Alltags.

Beispielhaft dafür ist ihr raumgreifendes Stillleben (seit 2013). Obwohl der Titel auf die lange kunsthistorische Tradition der klassischen Malereigattung verweist, zeigen Hirose und Nagatani eine raumgreifende Installation, bestehend aus einer Vielzahl kleiner, weißer Keramikobjekte, die auf einer großen, weißen Tafel angeordnet sind. Die Objekte oszillieren zwischen Abbildung und Verfremdung. Zwar kann man zuordnen, welchen Gegenstand sie darstellen, jedoch weichen sie in ihrem physikalischen Verhalten stark von den originalen Stofflichkeiten ab. Eine Orange sieht auf einmal aus, wie ein weicher Teigfladen, eine Gurke ist komplett in sich zusammengefallen, eine Glasflasche liegt verschrumpelt und eingedellt auf der Tischoberfläche. Obwohl die Objekte aus hartem Porzellan sind, erscheinen sie weich und gummiartig. Diese Wirkung erzielte das Duo beim Brennen des teuren Materials, deren Mischung es hierfür leicht modifizierte. Damit wurde während des Brennprozesses die Form, die ursprünglich von den originalen Gegenständen abgenommen wurde, degeneriert. Bildhauerische Formwerdung und Zerstörung des Modellierten fielen zusammen.

Die Übersetzung von banalen Lebensmitteln in einen künstlerischen Kontext vollzogen die beiden auch bei ihrer Arbeit Today is a good day (2016). Hier bildeten sie aus unzähligen, kleinen Salzgebäck-Brezeln eine über 30 m lange Girlande. Brezeln als eigentlich in sich selbst abgeschlossene Formen sind hier wie von Zauberhand miteinander verbunden. Die ineinander verschränkten Bögen erinnern an eine endlose Aneinanderreihung von ineinander verhakten Armen, an Schunkelfreude und Bierzeltatmosphäre. Aber Hiroses und Nagatanis Arbeit ist still und präzise – keine bunten Farben, keine flatternden Papiere, lediglich die nüchterne Verbindung des Gebäcks in luftigen Kaskaden hängend.

Der Einzug des Alltags in die Kunst ist bei weitem kein neuer Hut mehr. Seit Marcel Duchamps Readymades haben sich etliche Künstlergenerationen an diesem Topos abgearbeitet. Die Faszination ist geblieben. Deutlich zeigt sich dies bei Andreas Slominski, Achim Bitter oder der Künstlerinnengruppe FORT. Offensichtlich ermöglicht die künstlerische Verfremdung einen völlig neuen Blick auf die Dinge, die man täglich in den Händen hält, zu sich nimmt oder in den Abfall wirft. Bei Hiroses und Nagatanis Stillleben wirkt es fast, als würde erst der Entzug der signifikanten Eigenschaften ein erstarktes Bewusstsein für diese erzeugen. Doch anstelle die Realität nur abzubilden oder zu transplantieren, fügt das Duo ihr eine surreale Ebene hinzu. Es greift ein und stellt physikalische Wirklichkeiten in Frage. Die Verunsicherung greift damit weitaus weiter als bei Duchamps Flaschentrockner (1914) und verlässt den kunstimmanenten Diskurs. Geht es bei den Readymades um die Geste und Frage nach der Bedeutung der künstlerischen Setzung, so ist die direkte Herkunft des Objekts aus dem Alltag eindeutig. Hirose und Nagatani aber arbeiten mit Ähnlichkeiten und Veränderungen der sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Alltagsminiaturen und geben uns damit Rätsel auf, die nicht selten zum Schmunzeln verleiten.

In der fortlaufenden Serie 365 Wohnungen, an der das Duo 2011 ausdauernd und beständig arbeitet, nimmt es wieder das eigene Leben zum Anlass. Sie besteht aus unzähligen Miniaturmodellen der Wohnung, in der das Paar während des gemeinsamen Studiums an der Hochschule für Künste in Bremen lebte, seit dem Umzug nach Düsseldorf bauen sie die dortige Bleibe nach. Tag für Tag ergänzen die beiden die Reihe um ein weiteres Exemplar. Als Baumaterial für die kleinen Architekturen dienen Papiere und Pappen, die ihnen im Alltag begegnen und die ansonsten im Abfall landen würden: Müsliverpackungen, Fahrscheine, Flyer, Notizen, Postkarten oder Toilettenpapierrollen. In der Ausstellung auf einer weißen Tischplatte in peniblen Abständen installiert, bieten sie eine farbenfrohe, aber in der Form eintönige Miniaturstadt. Die nüchternen Weißflächen des Untergrundes zähmen die knallbunte Konsumästhetik. Ganz nah führen uns die Reste des Zusammenlebens an den Alltag der Künstler heran und gleichzeitig wird der Privatraum zur Massenware degradiert. Nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die beiden seit Jahren auf der Durchreise sind. Sie selbst sagen: „Die Wohnung ist der Ort, an dem wir die meiste Zeit verbringen. Einerseits ist sie das Fundament unseres Lebens, andererseits ist sie für uns nur ein provisorischer Ort.“ Seit sie 2007 nach Deutschland reisten, in Berlin lebten, in Bremen studierten und schließlich in Düsseldorf landeten, folgt ein Umzug auf den nächsten – das Provisorium ist zum Dauerzustand geworden.

Es ist auffällig, dass die eigene alltägliche Umgebung eine besondere Bedeutung für das Werk von Hirose und Nagatani hat. Seit einiger Zeit schneiden die beiden Tag für Tag Straßenpläne ihrer näheren Umgebung in akkurater Präzisionsarbeit aus. Draw a city nennen sie diese Arbeit. Dafür verwenden sie wieder Papiere aus ihrem Alltag: Magazine und Zeitungen dienen ihnen hierfür als Material. Dabei entstehen nicht nur beeindruckende ungegenständliche Cut-Outs, sondern der Arbeitsprozess bringt auch eine gewisse Aneignung der Umwelt mit sich. Sie erfahren ihre Umgebung nicht nur während sie sich in ihr bewegen oder sie mit Hilfe von Plänen studieren, sie spüren mit Cutter und Hand auch maßstabsgetreu die Straßen und Flüsse nach. Diese disziplinierte, tägliche Arbeit und Auseinandersetzung mit dem eigenen Ort erinnert an die künstlerische Praxis des japanisch-amerikanischen Künstlers On Kawara, der in den 1960er Jahren mit seinen Date Paintings Tag für Tag das Datum des jeweiligen Landes im entsprechenden Landesformat malte, in dem er sich aufhielt und somit der mit jedem Pinselstrich verstreichenden Zeit eine Materialität verlieh. Im Gegensatz zu On Kawaras künstlerischen Dokumentation seiner geografischen Ortswechsel, verstehen Nana Hirose und Kazuma Nagatani allerdings den Ort im Ausstellungstitel Another Place ganz anders. Sie zeigen, dass selbst der vertrauteste, alltäglichste Raum durch die Übersetzung in einen Kunstkontext zu einem anderen, noch nie so wahrgenommenen Ort werden kann und stellen dabei die Kraft der Kunst unter Beweis.